SPD Waiblingen

Warum neue Straßen keine Zeit sparen. Joseph Michl beim Maultaschenessen der Waiblinger SPD

Veröffentlicht am 24.05.2017 in Pressemitteilungen

Überraschende aber keineswegs neue Erkenntnisse der Verkehrsforschung wie die Reisezeitkonstante stellte Joseph Michl beim Maultaschenessen der Waiblinger SPD am 20. Mai 2017 im Restaurant „Staufer-Kastell“ vor. Joseph Michl ist Verkehrswissenschaftler, Vorsitzender der ARGE Nord-Ost sowie Sprecher des Landesnaturschutzverbands im Arbeitskreis Stuttgart. Die Reisezeitkonstante besagt, dass die durchschnittliche Reisedauer in allen menschlichen Gesellschaften 75 Minuten beträgt. Das bedeutet, dass alle Menschen in einer Gesellschaft durchschnittlich 75 Minuten außer Haus unterwegs sind. Das gilt für industrialisierte Gesellschaften genau so, wie für die Menschen in Entwicklungsländern und alle Hinweise deuten darauf hin, dass es im Mittelalter oder in der Steinzeit ebenso war. Wie diese Konstante entstanden ist, ist unbekannt. Sie wurde aber schon in den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Autoverkehr beschrieben, als die Wissenschaftler feststellten, dass die Autofahrer nicht mehr Zeit hatten, wie sie vermutet hatten, sondern in der gleichen Zeit größere Strecken zurücklegten.

Diese Konstante, die von der Verkehrspolitik der meisten Ländern und auch in Deutschland standhaft ignoriert wird, ist laut Joseph Michl eine der Hauptursachen dafür, dass der Straßenbau seine Versprechen nie einlösen konnte. Obwohl Deutschland eines der dichtesten Straßennetze der ganzen Welt hat, werden die Staus immer länger und der Zeitmangel der Verkehrsteilnehmer immer größer. Und weil die Menschen eigentlich ihre Bedürfnisse schnell und einfach befriedigen wollen, steigen auch Stress und Ärger. Dabei hatten sich die Menschen vom Auto ursprünglich schnellere und einfachere Wege versprochen. Der Grund ist, dass die Menschen wegen der Reisezeitkonstante immer längere Wege zurück legen. Sowohl freiwillig, wenn durch die Straßen viele Einkaufsmöglichkeiten zu erreichen sind, als auch unfreiwillig, weil die Einkaufsmöglichkeiten in Fußnähe immer weniger werden.

Solche zentralisierten Angebote verursachen dann wieder selbst Wirtschafts- und Einkaufsverkehr. Dieser Induzierte (das heißt durch Straßen selbst verursachte) Verkehr ist die zweite wissenschaftliche Erkenntnis, die die Verkehrspolitik beharrlich ignoriert. Der durch neue Straßen zusätzlich hervorgerufene Verkehr übersteigt dabei in der Regel die Einsparung durch direkte Verbindungen. Für die Anliegergemeinden des geplanten Nordostrings würde dies bedeuten, dass die Menschen dort zu Beginn schneller zum Einkaufen oder Arbeiten kommen würden. Dann würden sie aber beginnen, zum Einkaufen oder für die Freizeit weiter weg zu fahren, so dass der Verkehr automatisch zunimmt. Und der zusätzliche Verkehr würde die Zeiteinsparung wieder zunichte machen. Da bedeutet nicht, dass Autoverkehr grundsätzlich unvernüftig ist, betonte Michl, sehr wohl jedoch unnötiger Autoverkehr, bei dem Menschen ein Bedürfnis befriedigen, das sie auch genau so in kürzerer Entfernung hätten befriedigen können. Interessanterweise ist der Werksverkehr in Autofabriken aber genau so ökonomisch organisiert, wie es die Firmen auf der Straße ablehnen: Beim Bau der Autos werden immer die kürzesten Wege genutzt, im Verkehr aber nicht.

Die Ortsvereinsvorsitzende Agnes Gabriel dankte dem Referenten für seinen Vortrag. Außer Blumen übereichte sie ihm für seine Enkelkinder rote Gummienten im Design des Bundestagswahlkampfs 2017. Auch zwei neue Mitglieder konnte die Vorsitzende beim Maultaschenessen begrüßen: Marion Toboldt bekam das Parteibuch überreicht. René Jacobs hat sein Buch schon erhalten und war an diesen Tag zum ersten mal bei einer Veranstaltung des Ortsvereins mit dabei.

In der folgenden Diskussion erinnerte Christel Unger an die Fellbacher Umfahrung im Kappelbergtunnel. Zuerst seien die Autofahrer schneller in Stuttgart gewesen, heute stehen sie ihm Berufsverkehr oft genau so lange, wie früher durch Fellbach und Bad Cannstatt. Wenn der Nordostring dazu käme, würde der Verkehr dort zusammenbrechen. Joseph Michl bestätigte, dass das eines der vielen Beispiele für den Induzierten Verkehr sei. Es gebe viele Beispiele in Europa, wo der Verkehr flüssiger geworden war, nachdem man Fahrspuren zurück gebaut hatte. Viele Menschen hätten festgestellt, dass man in kürzerer Entfernung genau die gleichen Dinge zum selben Preis kaufen kann. Weder Anwohner noch Politiker trauen sich in der Regel so etwas zu fordern. Aber wo zum Beispiel aus technischen Gründen eine Fahrspur wegfällt, ist der Effekt oft verblüffend.

Helga Straile war der Auffassung, dass der Berufsverkehr das größte Problem für das Straßennetz ist. Joseph Michl sah die Konzentration der Firmen als Ursache. Werke für tausende Mitarbeiter können nur mit Straßen funktionieren, die auch eine so große Fahrzeugmenge aufnehmen. Auch wenn man es in der egion nicht gerne höre, sei er der Auffassung, dass es besser wäre, wenn es in Deutschland viele kleinere Niederlassungen von Daimler und Porsche gebe. Abgesehen davon führten immer größere Firmen zu immer weniger vielfältigem Angebot.

Dass sich viele Menschen zum Umstieg von Auto weg bewegen lassen, bezweifelte Necdet Göcer. Joseph Michl erinnerte daran, dass der Autoverkehr oft auch etwas unsoziales hat. Die Reichen wohnen in grünen verkehrsberuhigten Wohngebieten, während die Armen an den lauten und dreckigen Durchgangsstraßen wohnen. Die Städte in Europa, die als die mit der höchsten Lebensqualität bewertet werden, wie Kopenhagen, hätten den Autoverkehr drastisch eingeschränkt.

Hermann Schmid berichtete, dass er in Kopenhagen war und die Dänische Hauptstadt inzwischen eine der teuersten Städte auf dem Kontinent ist. In der Innenstadt würden nur noch Wohlhabende leben und die Normalverdiener würden an den Stadtrand gedrängt. Joseph Michl räumte ein, dass er für die Gentrifizierung auch keine Lösung wisse, dass es aber eine Aufgabe der Stadtverwaltungen sei, dass die soziale Mischung erhalten bleibe.

Peter Schrade erinnerte daran, dass in Stuttgart gerade die Autofirmen schlecht an Bus und Bahn angschlossen sind. Er schlug vor, den ÖPNV massiv auszubauen und billiger zu machen, wie in Wien, wo die Netzkarte für ein Jahr 365 Euro kostet. Joseph Michl stimmte zu und schlug vor, über die Kommunalen Grenzen hinweg zu denken. Warum soll nicht einmal eine Stuttgarter Stadtbahn nach Ludwigsburg fahren, oder eine Ludwigsburger Stadtbahn nach Zuffenhausen.

Das Problem der Lagerhaltung auf den Straßen sprach Uschi Steinkogler an. Viele Betriebe unterhalten keine Lagerhallen mehr und lassen sich die Lagerung auf der Straße durch die Allgemeinheit bezahlen. Joseph Michl erinnerte an die bekannten Fälle, in denen Waren auf der Jagd nach Subventionen durch ganz Europa gekarrt werden und dadurch wirklich völlig unnötiger Verkehr und Belastungen für die Umwelt entstehen.

In seinem Schlusswort beklagte Joseph Michl die Konzentration der Wirtschaft in Baden-Württemberg auf die Autoindustrie. Das ist nach seiner Meinung genau so gefährlich für die Wirtschaft, wie der riesige Exportüberschuss. Beides schafft Abhängigkeiten, die sich fatal rächen können. Er erinnerte daran, dass die Montanindustrie noch in den 1960iger Jahren vor Kraft kaum laufen konnte und es niemand für möglich gehalten hatte, dass sich daran in den nächsten 100 Jahren etwas ändert. Und dass dann innerhalb von zehn Jahren die Industrielle Basis im Ruhrgebiet völlig zusammengebrochen ist und Kohle und Stahl plötzlich der Inbegriff veralteten Wirtschaftens waren. Er betonte, dass er von Ministerpräsident Kretschmann in dieser Frage enttäuscht ist und er sich von ihm mehr Einsatz für neue Wirtschaftszweige erhofft hat.

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