SPD Waiblingen

Die SPD Waiblingen gedenkt Berta Kahn und allen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung

Veröffentlicht am 10.11.2023 in Aktuelles

Die SPD Waiblingen gedenkt Berta Kahn und allen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung

Die SPD lud dazu auch Bürgerinnen und Bürger ein und traf sich am Stolperstein, der zur Erinnerung an Berta Kahn in der Ludwigsburger Straße in Waiblingen verlegt wurde.

SPD-Fraktionsvorsitzender Roland Wied in seiner Gedenkrede: „Der 9. November ist ein Tag zum Innehalten. Wir wollen diesen Tag auch dieses Jahr wieder nutzen, um daran zu erinnern, was passieren kann, wenn wir die Rechte und Freiheiten, die wir haben, nicht nutzen oder leichtfertig verspielen.

Wir rufen dazu auf, die Werte des Grundgesetzes, Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Menschenrechte, aktiv zu verteidigen. Zunehmend wird von allen Seiten versucht, diese Werte in Frage zu stellen und die staatlichen Einrichtungen zu verunglimpfen und zu destabilisieren. Hetze, Ausgrenzung, Sündenbockstrategien und populistisches Instrumentalisieren von Minderheiten dürfen kein Mittel der Auseinandersetzung sein. Wer Gewalt propagiert, gegen Andere hetzt, die Demokratie abschaffen oder gar eine religiöse Diktatur anstrebt, dem muss mit allen Mitteln des Rechtsstaates und konsequent begegnet werden. Die Freiheit stirbt schleichend, eine „illiberale Demokratie“ setzt sich langsam durch, und eine Diktatur kommt nicht vor selbst. Wir alle sind aufgefordert, unsere Freiheit zu verteidigen.

Das Schicksal der Berta Kahn

Was geschieht, wenn sich menschenverachtende Propaganda und ein gewalttätiges Regime durchsetzen, lässt sich am Schicksal der Berta Kahn, vor deren Stolperstein wir heute stehen, sehen.

Da sind anfangs des 20. Jahrhunderts zwei Brüder nach Waiblingen gekommen.

Adolf Kahn mit seiner Frau Rosa, sie hatten 4 Kinder: Bella, Irma, Alfred und Hilde. Die Ehefrau ist 1933 gestorben, der Vater ist mit seinen Kindern 1937 vorausschauenderweise nach Amerika ausgewandert.

Sein Bruder Ludwig Kahn und seine Frau Berta Kahn geb. Strauss waren gut integriert, lagen niemand auf der Tasche und waren bei den Bauern der Umgebung – er war Viehhändler – sehr beliebt. Unser verstorbener Stadtratskollege Rudi Thudium hat sich über die spätere Berta Kahn wie folgt geäußert: „Eine nette, ältere Frau. Ihr Glaube war nie ein Thema. Sie war ein Mensch wie wir, eine Waiblinger Bürgerin“.

Die beiden hatten einen Sohn Beno. Er ist 1936 als junger Mann nach USA ausgewandert. Er war bis zu seinem Weggang Mitglied im Waiblinger Turnverein. Seine Eltern sind – warum auch immer - geblieben.

Gleich nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 hat staatlicherseits eine maßlose Hetze gegen Juden begonnen. Bis dahin waren sie normale Mitbürger, Nachbarn, Arbeitskollegen, plötzlich offiziell minderwertig, Volksfeinde, Schädlinge. Der Staat – nicht nur verwirrte Bürger – hat offiziell die Parole ausgegeben „Die Juden sind unser Unglück“.

Auch in Waiblingen wurde bereits 1933 ein „Aktionskomitee“ gegründet. Es wird von einem Fackelzug von SA und SS durch Waiblingen berichtet bis zur Wohnung eines jüdischen Arztehepaares im Waiblinger Krankenhaus. Der Ruf „Juden raus“ hallte durch Waiblingen. Das war Anfang 1933. Der Arzt und seine Frau haben Waiblingen noch in der gleichen Nacht verlassen.

1938 wurde verfügt, dass Juden keinen Zutritt zum Waiblinger Wochenmarkt hatten. Jüdische Händler wurden rausgedrängt.

1938 mussten sie ihren Vornamen – Ludwig und Berta waren ja keine erkennbar jüdischen Namen – „Israel“ und „Sara“ hinzufügen.

Führen von Kraftfahrzeugen war verboten.

Ludwig Kahn ist 1939 an Herzversagen verstorben, begraben in Cannstatt.

Ab 1941 muss Berta Kahn einen Judenstern tragen. Sie wohnt jetzt hier, in der Ludwigsburger Straße 45.

Verlassen der Stadt muss genehmigt werden, ebenso das Benutzen von Verkehrsmitteln. Aus einer Liste, die im Waiblinger Rathaus geführt wurde, ergibt sich, dass ihr die Erlaubnis erteilt wurde zu Fahrten nach Stuttgart, einmal zum Besuch eines Auswandererkurses, einmal zum Kauf von Schuheinlagen. Juden durften Sitzplätze nur einnehmen, wenn sie nicht für andere Reisende benötigt wurden.

Am 20. November 1941 erhält Berta Kahn ein Einschreiben,

...wonach sie auf Anordnung der Gestapo zu einem Evakuierungstransport nach Osten eingeteilt ist.

Es ist genau vorgeschrieben, was sie mitnehmen darf und was nicht. Kein Geld, kein Schmuck, keine Wertsachen. Hausrat wird über das Finanzamt eingezogen.

Sie wird auf ein Sammellager auf dem Killesberg gebracht, alles sauber überwacht und dokumentiert.

Deportation erfolgte per vollgestopftem Zug nach Riga in Lettland. Dort wurde sie wahrscheinlich – genaues weiß man nicht – in einem Wald bei Riga mit vielen anderen mit Maschinengewehren niedergemäht.

Vom Amtsgericht Waiblingen wurde sie auf den 8. Mai 1945 (Kriegsende) für tot erklärt.

Ihr Sohn Bruno hat als US-Soldat gegen Nazi-Deutschland gekämpft und nach dem Krieg versucht, das Schicksal seiner Mutter zu klären. Er hat aber auch nicht mehr herausgefunden.

Aber er hat Entschädigung beantragt. Die gab es auch: 197 DM für eingezogene Wertsachen, 6.000 DM für Hausrat und mitgenommene Sache. Und für den Schaden an Freiheit, den Berta Kahn erlitten hat, 900 DM!!

Quelle: Juden in Fellbach und Waiblingen 1930 – 1952. Herausgegeben von der Stadt Waiblingen und der Stadt Fellbach

Roland Wied weiter: „Wir müssen uns immer und immer wieder an solche Lebensläufe erinnern. Damit wir uns auch immer wieder die Frage stellen, wie es zu solchen gesellschaftlichen und menschlichen Katastrophen kommen konnte.

Wir wissen heute viel über die Opfer, aber es lohnt sich auch darüber nachzudenken und ich frage mich oft, wie konnte es passieren, dass so viele Menschen „Juden raus“ gebrüllt oder dabei zugeschaut haben, wie jüdische Nachbarn bespuckt wurden, wie jüdisches Eigentum gestohlen und jüdische Wohnungen geplündert wurden. Wie die Hetze weitergetragen werden konnte, auch in den Rathäusern und Finanzämtern, wo diese niederträchtigen Anordnungen in bürokratischer Korrektheit ausgeführt wurden; überall dort, wo Menschen mitansahen, wie Nachbarn aus ihren Wohnungen geholt, in Viehwagons gesteckt und gen „Osten“ umgesiedelt wurden.

Es ist gut, dass es diese Stolpersteine gibt. Wir sollten sie pflegen, sie regelmäßig besuchen und innehalten. Sie machen Geschichte jenseits der großen Töne und Sprüche fühlbar und sie mahnen uns an unsere Verantwortung in der Gesellschaft.

Ich möchte mit einigen Zitaten von Margot Friedlänger schließen. Sie musste 1943 untertauchen, wurde noch anfangs 1944 ins KZ Theresienstadt gebracht, hat aber überlebt. Ihre Mutter und ihr Bruder wurden in Ausschwitz ermordet. Sie ist hochbetragt aus USA nach Berlin zurückgekehrt, sie ist jetzt 102 Jahre alt.

Sie will vor allem die Nöte und Gefühle weitergeben, die die verfolgten Menschen damals hatten. Sie will nicht verzweifeln und ist ohne Hass.

Zitat: „Ich kann die Leute nicht mehr greifen, die das getan haben, genauso wenig diejenigen, die weggeguckt haben, was ich mindestens genauso schlimm finde.“ Jungen Leuten, an die sie sich vor allem wendet, ruft sie zu: „Mein Bruder war 17, brillant, ein außergewöhnlicher Schüler. Er hatte nicht die Chancen, die ihr habt. Schmeißt es nicht weg“.

Ein Appell, den wir heute an alle richten können.“

Stadtrat Dr. Peter Beck, ebenfalls SPD, ergänzt: „Geschichten wie diese kann und darf man nicht vergessen. Solche Ereignisse sind in die Fundamente unserer Demokratie eingegangen. Wer sich einer solchen Erinnerung widersetzt, widersetzt sich auch unserem demokratischen Verständnis des Miteinanders.

Solche Geschichten haben aber auch Auswirkungen auf unsere Verantwortung in der Welt. Zunächst muss jedem klar sein, dass das politische Asylrecht 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben wurde. Auf Betreiben von Carlo Schmidt und Hermann von Mangold wurde das Asylrecht allen politisch Verfolgten in der Welt garantiert.

Auch wenn das Grundrecht auf Asyl mehrfach reformiert wurde, um dem Ansturm der Asylsuchenden gerecht zu werden, sind wir uns aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland einig, dass das Recht auf Asyl grundsätzlich erhalten bleiben muss.

Äußert man in diesen Zeiten Kritik am Asylrecht, läuft man schnell Gefahr, in eine populistische Ecke gedrängt zu werden. Aber muss man nicht von geflüchteten Menschen erwarten können, dass sie sich zu den demokratischen Grundwerten bekennen und sich für die Rechte unserer Grundordnung bedingungslos einsetzen? Schließlich haben es ihnen unsere demokratischen Grundrechte ermöglicht, ihr eigenes Leben in Sicherheit zu bringen und in Frieden leben zu dürfen.

So gesehen lassen manche Kundgebungen den Beobachter erschreckt und verwirrt zurück, wenn auf zweifelhaften Demonstrationen die grausamsten Morde gerechtfertigt werden oder gar eindeutig antidemokratische Staatsformen eingefordert werden.

Einerseits sind wir aufgrund unserer nationalsozialistischen Vergangenheit einem Asylrecht verpflichtet, andererseits sind wir aber aufgefordert, unsere demokratische Grundordnung zu schützen.

Menschen, die unsere Grundrechte nicht akzeptieren können, müssen wir entschieden und entschlossen entgegentreten. Unsere demokratischen Werte sind ein zu hohes Gut, um es aufs Spiel zu setzen.  

Insofern ist Erinnerung nicht nur das Geheimnis der Versöhnung, sondern aus ihr wächst auch der Wille, sich dem Schrecklichen der nationalsozialistischen Vergangenheit entgegenzustellen. Aus der Erinnerung wächst eine Kraft, unsere Demokratie zu schützen.

Georg Santayana sagte es mit folgenden Worten:

„Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben.“